Zeit der Fliegen

Installation im Haus der Kunst während der Ausstellung Reset now!

Zeit der Fliegen ist eine Fortentwicklung von Drosophila Karaoke Bar.

In der Zeit der Pandemie erlebte ich unsere biologische Bedingung auf eine neue Weise: Pandemien lehren uns über Sphären, Nähe, unser Distanzverhalten. Wir fragen uns, ob wir bisher genug auf die Sicherheit unseres Lebensbereichs geachtet haben und überlegen, wen wir an uns heranlassen. Ich habe diese Zeit „Zeit der Fliegen“ genannt, vor allem, weil ich in meinem Einraumppartment in Berlin allein mit Fruchtfliegen – Kulturen von Drosophila verschiedener Spezies – lebte.

Sobald man mit einem biologischen Organismus (Tieren oder Zellen) arbeitet, ändert sich etwas sehr Grundlegendes: Der Tag wird von den Erfordernissen der Kultur bestimmt, den Viechern, die man in seinen Lebensraum lässt, sie dominieren den Tagesablauf.  Man muss dafür sorgen, dass sie sich wohlfühlen, sich fortpflanzen, weil deren bevorzugten Lebensbedingungen andere wären als die eigenen. Man muss einen Kompromiss finden zwischen den unsymmetrischen Verhältnissen.

Die Idee, Fliegen zu meinen Mitbewohnern zu machen, kam mir, als ich nach einem Wesen suchte, das mir als Beobachtungsobjekt dienen sollte. Es sollte interessante kollektive Verhaltensweisen zeigen und eine Bedeutung für die Wissenschaft und unsere zivilisierte Lebensweise haben.

So bin ich bei den Fruchtfliegen gelandet. Neurowissenschaftler haben sich für Fruchtfliegen entschieden, weil ihre Gehirne einfacher sind als unsere. Allerdings, wenn man sich das Verhalten der Fliegen anschaut, kann man unschwer erkennen, dass ihre Aktivitäten z.B. während ihrer ‚party hour‘ schon sehr komplex sind.

Man sieht fliegende Fruchtfliegen, die sitzen, sich gegenseitig jagen und beschnüffeln, Freunde besuchen, Fliegen umwerben, sich paaren, kämpfen (wie von Ralph Greenspan berichtet)[1]).

Fruchtfliegen singen. Neben dem bekannten Summen während des Fluges singen sie auch mit ihren Flügeln, um sich untereinander zu verständigen. Von diesen Gesängen sind der Sinuston und der Pulston bekannt, wobei letzterer semantisch kodiert ist. Aber neben dem von Birgit Brüggemeier [2] wissenschaftlich beschriebenen Pulsgesang und dem Sinusgesang, der dem Summen der fliegenden Fliegen ähnelt, auch andere Klangmuster bemerkt, die eher aggressiv klingen oder wie seltsame Signale, um sich Gehör zu verschaffen.

Um mit den Fliegen in einen Austausch zu treten, nutze ich diese Verhaltensmuster. Mit dieser Arbeit biete ich Ihnen die Möglichkeit, durch Singen direkt mit Fruchtfliegen in Austausch zu treten. Wenn wir Menschen singen, entwickeln sich unsere Lieder oft entlang bereits bekannter Melodien. Aber hier wissen wir nicht, welches Lied wir singen sollen. Wir müssen erst einmal zuhören.

zweiter Bildschirm, reaktive Betrachtung des sozialen Verhaltens der Fliegen
Eindrücke der Ausstellungseröffnung in München
Innenansicht der Kiste, Fliegen in Agar, Fliegenkultur, Kameras, Mikrofone
Ausspielung mit Tönen im Spektrum des Fliegengesangs
Schematisches set-up der Installation
Zeit der Fliegen Klagegesang
Installation in meinem Appartment in Berlin, Experimente mit verschieden geformten Petrischalen und anderer Platzierung der Mikrofone

Um den Kontakt zu erleichtern, haben wir eine Software verwendet, mit der wir den Klang des menschlichen Gesangs an den Gesang der Fliegen anpassen. Die Software basiert auf einem Audio-Mosaiking, das vom Fraunhofer Institut IIS bereitgestellt wird.[3]. Audio mosaicing ist fortschrittlicher als die Vocoder-Software, die wir für Drosophila Karaoke Bar verwendet haben. Ein Vocoder passt nur die Hüllkurve, d. h. die charakteristische Kurve der Amplitude eines Klangs, die die Klangfarbe bestimmt, an einen Zielklang an. Bei dem audio mosaicing wird auch das Frequenzspektrum in den Aktivierungsmustern an eine vorher ausgewählte Vorlage angepasst.

Wie hat das Audio Mosaiking die Interaktion mit den Fliegen verändert? Während ich mit dem Vocoder noch das Gefühl hatte, durch ein Instrument zu sprechen, veranlasste mich das audio mosaicing sofort dazu, mit den üblichen Tonhöhen und Klangfarben des Fliegengesangs zu singen. Das hat die Erfahrung mit den Fliegen grundlegend verändert. Der Vocoder ermöglichte es, die Fliegen sofort zu stimulieren. Sehr bald war klar, dass dieses Werkzeug gut geeignet ist, die Fliegen zu wecken. Nach der anfänglichen Begeisterung, in die Welt der Fliegen aufgenommen zu werden, stellte sich jedoch schnell die Frage: Wie geht es weiter? Schließlich kann man die Fliegen nur enttäuschen, sobald sie merken, dass man kein geeigneter Partner ist. Und an dieser Stelle wurde das Audio Mosaiking interessant. Es ermöglichte mir, in eine Klangsphäre einzutreten, die diejenige der Fliegen war.

Ich habe oft und wiederholt versucht, ein Verständnis für die Fliegen zu entwickeln, indem ich mit dem Audio Mosaiking gesungen habe. Ich musste verstehen, dass die Fliegen faul und schrullig sind. Wenn sie etwas nicht wollen, tun sie es einfach nicht Wenn sie Spaß haben, kümmern sie sich nicht um uns Menschen. Sie brauchen uns nicht – außer vielleicht unser Essen. Aber das war es auch schon. Als ich mich im Klangspektrum der Fliege befand, fing ich an, mich zu beschweren, zu stöhnen und zu jammern, und jede Äußerung war körperlich, unmittelbar und nicht sehr geistvoll.

Oft wünschte ich mir, meine Stimme wäre trainiert, die einer Sängerin. Und ich könnte ihr mehr Kunstfertigkeit abverlangen. Aber – und das scheint mir das Entscheidende zu sein – in diesen Zeiten wird das Naheliegende wesentlich.

Aber was bedeutet all dieser Aufwand nun: seinen Lebensraum mit einem sogenannten ‚Lästling‘ zu teilen? Und mit dieser Plage Klagen oder Lieder des Leidens, der Beharrlichkeit, des Wartens zu singen? Sartre („Les mouches“) würde eine eindeutige Antwort geben: Überwinde die Schuld. Tritt heraus aus der Vergangenheit.

Ich hingegen wollte einfach eine offene Situation schaffen, in der wir unvoreingenommen beobachten und interagieren, bevor wir etwas „wissen“ oder Entscheidungen treffen. Und da wäre jede vorgebildete Kunstfertigkeit fehl am Platz.

Und ich habe mich auf Fruchtfliegen konzentriert, weil sie zu dem gehören, was wir aus dem täglichen Leben eliminieren, was wir mit Schädlingsbekämpfung ausrotten, was nicht zu einer Kultur der Modernität gehört. Die Konfrontation mit unseren eigenen Auslassungen scheint mir wesentlich für ein Weiterkommen.

Interaktionsbildschirm der Installation mit Sonogramm der Fliegengeräusche und der menschlichen Stimme
Aufbau der Installation, technisch

Die Arbeit wurde produziert mit der Unterstützung des Artists in Lab Programms der Fraunhofer Gesellschaft.

Sie wäre nicht möglich gewesen ohne die technologischen Planungen, die Programmierung und die Geduld von Felix Bonowski.


[1] Hans Dierick, Ralph Greenspan; Molecular analysis of flies selected for aggressive behavior. Nat Genet. 2006 Sep;38(9):1023-31 https://doi.org/10.1038/ng1864

[2] Birgit Brüggemeier, Mason A. Porter, Jim O. Vigoreaux, Stephen F. Goodwin; Female Drosophila melanogaster respond to song-amplitude modulations. Biol Open 15 June 2018; 7 (6): bio032003. doi: https://doi.org/10.1242/bio.032003

[3] Patricio López-Serrano, Christian Dittmar, Yiğitcan Özer, and Meinard Müller
NMF Toolbox: Music Processing Applications of Nonnegative Matrix Factorization
In Proceedings of the International Conference on Digital Audio Effects (DAFx), 2019.